Alive - nach dem Nachtleben oder alles muß weg
Text & Fotos bp
Stefan und ich machten es uns zur Angewohnheit an Wochenenden den ein oder anderen Club aufzusuchen. Zum Kauf einiger Cd´s erhielt man Eintrittkarten für die obstrusesten Etablissements, manchmal aber auch Highlights wie zwei Tickets ins berüchtigte Velfarre in Roppongi, eines der größten Zappelschuppen in der Megalopolis (angeblich auch der teuerste, was die Baukosten betrifft).

Allerdings mußten wir enttäuscht feststellen, dass das mehr eine Fleischbeschau ist als ein Nachtclub: OL (japanisch o-aru. was man mit office lady übersetzt) tanzen gelangweilt ein-Beinchen-links-ein-Beinchen-rechts auf zwei Podesten während die besoffenen sararymen (salarymen) im zerknautschten Büroanzug hechelnd, sabbernd versuchen einen Blick zu erhaschen - bei Rocklängen knapp über der Gürtelbreite sitzt die Geldbörse besonders locker ...

Stefan machte den Vorschlag, uns einen besseren Überblick zu verschaffen, indem wir uns zu den Mädels auf den Tables gesellen. Ob´s lustig war? Nach nicht einmal zehn Sekunden bat uns ein freundlicher Securitytyp herunter und erklärte uns, dass man um droben herumgähnen zu dürfen, man einen Stempel auf dem Oberschenkel bräuchte ... und den dazugehörigen Rock ... ok.

Das war auch schon der einzige Versuch sich unauffällig im angesagtesten Club Tokyo zu bewegen - ob er es allerdings immer noch ist, wage ich heute zu bezweifeln.

Die ganzen Gaijin-Bars in Roppongi, angefangen mit dem berühmt berüchtigten Gaspanic, sind ohnehin zu vergessen, außer man steht auf amerikanische GI- und Loosertypen, die ein "always horny" auf die Stirn tätowiert haben. Sicherlich gibt es auch abseits vom Brennpunkt einige gute Lokale, leider sind diese ebenso der Mode und einem gewissen Verfallsdatum unterworfen wie alles andere in Tokyo auch.

Apollo - find ich gut

Tokyo Classified - Infomagazin von und für Ausländer in Tokyo - ist es immer Wert, dass man es sich beschafft. Besonders die Anzeigen über die neusten Bars und Clubs. Und so verschlug es meinen bayerischen Mitstreiter und meine Wenigkeit eines Tages nach Kita-Aoyama in das "Cyber Soul Space" Apollo. Unscheinbar im Keller eines Bürogebäudes mit Raumhöhen, die die deutschen Behörden sofort an die Decke gehen ließe. Und ... was noch Spaß machte, die Musik hörte nicht schon um Mitternacht auf wie im Velfarre, nein das muntere Treiben (endlich auch mal Typen ohne Krawatte und Mädels, die man nicht gleich nach dem Preis fragen würde) dauerte bis in die frühen Morgenstunden.

Nicht, dass jetzt der Eindruck entsteht, das folgende fand auch an einen Samstag statt, nein, das war unter der Woche, Mittwoch oder Donnerstag ... unwichtig jedenfalls.

In Japan gehört es sich neben der Erkundung des Sozialverhaltens der Ureinwohner nach Sonnenuntergang auch zum Pflichtprogramm, die Ernährungsgewohnheiten zu studieren. Unser (Stefan und meines) montägliches Sushiessen gegenüber dem Unicampus kann man schon als Ritual bezeichnen. Zuguterletzt kannte der Sushiyasan unsere Vorlieben oder fragte besorgt, was los sei, wenn ein Montag ausgelassen werden mußte. Auch 100Yen-guruguruzushi (auf Neudeutsch: running sushi) und hochklassige Ware gehörten zu unserem Speiseplan ... zum Leidwesen unseres Stipendiatenkontos bei der Fuji-Bank.
Zuguterletzt interessierte uns dann aber auch von wo denn unser heißgeliebter Katsuo, Maguro, Hamachi, Aoyagi, Tori, Hotate und Konsorten das Land erblicken (müssen). Also ... um wieder den Faden mit dem Apollo aufzunehmen ... beschlossen wir nach einer durchtanzten Nacht rechtzeitig zur Thunfischauktion zum Fischmarkt zu fahren.

Tsukiji - Fische, Fische, Fische, ...

Selten bin ich so im Weg gestanden wie damals. Scherz beiseite, so schlimm war es auch wieder nicht. Man muß nur ständig Acht geben, dass einem diese flinken Motorschubkarren nicht in die Kniekehle rasen während man in die andere Richtung schauend verzweifelt versucht dem Dämmerlicht mit seiner Kamera Herr zu werden. Das äußerlich scheinende Chaos wird von eingen hundert lizensierten Händlern, Zwischenhändlern und Auktionären sowie nicht-lizensierten Touristen täglich auf´s Neue bis an die Grenzen ausgereizt. Letztere erkennt man daran, dass ihre Bewegungen zwar ebenfalls willkürlich in alle Richtungen verlaufen, dann aber eher ruckartig zusammenzucken, den Spritzern der motorisierten Ameisen ausweichen und den Fotoapparat ins Trockene retten. Gut, mit etwas Übung bekommt man das schnell in Griff .. oder auch nicht.

Gebimmel - Geschrei - Gebimmel - verkauft!

Sollte jemand glauben mit bestandenem Japan Language Proficiency Test (Niveau 1) und Schwarzem Gürtel in japanisch Fluchen ist er nun reif um auf die lieben Japaner losgelassen zu werden, so muß ich ihn nun enttäuschen. Das wohl beeindruckendste Schauspiel japanischer Sprache wird wohl für die meisten von uns ein ewiges Buch mit Sieben Siegeln bleiben: die Versteigerung der Thunfische!

Nachdem die Qualität des gefrorenen (manchmal auch rohen) Megaherings anhand eines Lutschtests in Yen erschmeckt wurde, haben nun einige Händler die Möglichkeit mit verrenkten Fingern und anderen Handzeichen innerhalb von wenigen Sekunden das Fischlein zu ersteigern. Der, der den Hammer schwingt, oder besser gesagt hier die Glocke bimmelt, startet das Schauspiel, brüllt unverständliches Zeug (abgesehen von der unglaublichen Geschwindigkeit seiner Zungenfertigkeit) und bimmelt keine zwanzig Sekunden später den Verkauf ein. Das wiederholt sich einige Male - jedesmal das gleiche Procedere - der freundliche Herr mutiert zum aderntreibenden Rothaupt und chilled locker wieder mit Weihnachtsglocken aus.

Was nun passiert ist zwar weniger spektakulär, aber genauso interessant: das Filletieren des Silberlings mit Schwert-ähnlichen Messern oder für die "verfrorenen" Kollegen mit elektrischen Bandsägen. Bei den diversen Großhändlern findet man dann die ganze Palette japanischer Speisekarten, tot und lebend. Der Oktopus, der eben noch für ein paar Scheinchen den Besitzer wechseln sollte versucht einen Ausbruch und schlabbert unbeholfen auf allen Achten Richtung ... nix da!

frisch - frischer - lebend

Bei Katoh, dem Sushi-Restaurant am Fischmarkt, ist schon um 5 Uhr die Hölle los. Allerdings habe ich dort niemals Ausländer gesehen. Liegt es daran, dass wir Europäer (und Amis und Aussies und ...) um diese Zeit lieber ein Müsli frisch aus der rechtsdrehenden Mühle reiben?
Gut, Katoh liegt also gleich neben den Geschäften, die eine geballte Ladung Sojasauce, otemoto (oder ohashi oder Stäbchen), nihonshu (Sake), Messer (!) usw. verkaufen.
In seiner Vitrine findet sich so ziemlich all das, was zuvor noch in Styroporkistchen auf Eis gelegen hat oder in schaumigen Wasserbehältern (muß sein wegen dem Sauerstoff) seine letzten Runden schwamm. Yeah!

Katoh ist nicht gerade billig, aber betrachtet man die Entfernung zum Fischernetz, der frischeste siner Zunft (so ziemlich). Alles was das Herz begehrt und der Magen gerne auch weider verkehrt austülpen würde, kann man hier finden. Johnny, ein befreundeter Fotograf, besuchte einst mit mir dieses Lokal (mein erster Besuch bei Katoh) und erklärte mir Fisch (der sich damals auf meinem Speiseplan auf Karpfen, Forelle und Fischstäbchen beschränkte). Wir, besser gesagt ich, probierten alles durch - für Johnny war´s ja nichts Neues - Angeber.
Lustig fand ich wie er mich immer fragte "can you eat this?" - daijobu? - ee, daijobu! Als krönenden Abschluß dann die Frage - ich hätte das mikroskopisch kleine zuckende Lächeln in seinen Mundwinkeln besser deuten müssen - "can you eat ama ebi?" - rohe Süßwassermakrele - also nicht die rot gekochten Garnelen, die mit Knoblauchsoße Standardgestank eines jeden Sonntagsbrunch der deutschen Gastronomie darstellen. Auch hier ein bestätigendes "kein Problem" (meine Sprachkenntnisse zur damaligen Zeit waren eher rudimentär bis gar nicht vorhanden).
Johnny bestellte nun für uns beide (sorry Stefan, aber hier warst Du nicht dabei ... da kannte ich Dich noch gar nicht!) ama ebi. Was sich nun vor meinen Augen abspielte, soll mein zukünftiges Eßverhalten nachhaltig beeinflussen:
Der gute Herr Katoh nahm nun zwei lebende(!) Garnelen aus der Vitrine und zog ihnen - nach zehn Jahren Lehrzeit auch kein Wunder - mit kunstvollen Handgriffen und Messerattacken die Schale und vor allem das Ungenießbare vom Leib. Blitzschnell wie ein Taschentrickdieb klebte er die Überreste der beiden ebi auf den Reis, platzierte sie noch auf die berühmten Tellerchen und stellte sie auf den Tresen. Ja und?, werden Sie sich nun fragen. Die Schwänze der Garnelen zeigten mit orgastischem postmortalem Zittern, dass sie gerne wieder in den Fluß wollten, das war´s! Ich hab sie gegessen und ich muß gestehen, sie haben geschmeckt.

do not stay longer than 20 minutes!

Stefan hatte - wie auch immer - in Shibuya den berühmten 100Yen-Sushi-Laden aufgetan. Mit nichten zu vergleichen mit Katoh, dafür billig und zur richtigen Tageszeit auch schnell. Während der üblichen Tageszeit zur Nahrungsaufnahme im Land der aufgehenden Sonne ist dieses Restaurant eher zu meiden, wartet man dann nicht selten zuerst dreißig Minuten auf der Strasse, während man anschließend eine weitere halbe Stunde entlang einer zwanzig Meter langen Bank rutscht, bis man endlich einen der begehrten Plätze zugewisen bekommt. Bitte essen Sie zügig, lesen SIe keine Zeitungen, unterhalten Sie sich nicht, ... das Schild am Eingang zeigt schon, wo´s lang geht: Umsatz Umsatz Umsatz, der Fisch darf hier nicht mehr laufen anfangen.
Ein Erlebnis, wenn auch nicht kulinarische Höchstleistung.

überlebt
keine Magenbeschwerden
ermutigt

Yatai oder kulinarisches Socializing

Im Dunstkreis der Bahnhöfe wachsen abends Garküchen wie Pilze aus dem Boden. Fristen diese Yatais tagsüber ein eher unbeschauliches Dasein als gut verschnürtes Sperrgut auf Rädern mit aufgestapelten Bierkisten und abgewetzten Hockern, erwachen sie in der Dunkelheit zu einer besonderen Einrichtung der ostasiatischen Küche.

Meist spezialisiert auf ein oder zwei Gerichte, läßt man sich zwischen Bahnsteig und Zuhause (selten wartet eine keifende Ehefrau, da diese Einrichtungen mehrheitlich von Singles besucht werden) für eine halbe Stunde mitunter auch mehrere Stunden bis weit nach Mitternacht nieder.

Das Leben eines Durchschnittsjapaners dreht sich hauptsächlich um drei Dinge: die Arbeit (mit der er ja bekanntlich verheiratet ist; Scheidungsrate tendenziell steigend), Essen und Einkaufen. Während letzteres erst eine Erscheinung des wirtschaftlichen Aufschwungs in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ist, stellt die kulinarische Komponente schon seit alten Tagen einen schwergewichtigen Teil der japanischen Gesellschaft dar (und dies nicht nur bei den Sumo rikishi).

Fortsetzung folgt

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