Trainstories Teil 2
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Metamorphosen

Der letzte Zug nach Mitaka. Wir, John, Ian und Jacky hatten einen langen Abend auf einem Presseempfang und in Bars hinter uns - Motown und Rolling Stone; ich fühlte mich verräuchert, polluted von schlechter Luft und Alkohol - und dennoch seltsam angerührt von der stummen Konversation mit Jacky: Wir hatten uns, ob der Lautstärke im Rolling Stone, über Briefchen unterhalten.

Ich schlief gut und fest im Zug. Als ich aus meiner verloschenen Traumwelt erwachte, nahm ich gegenüber zwei Japanerinnen wahr. Eine unterhielt sich lebhaft mit - der anderen, die unglaublich verschlafene Augen hatte und ... einen bemerkenswert schiefen Mund.

Ich drehte meinen Kopf nach links und sah das hübsche Profil eines Mädchens, das sich langsam in meine Richtung drehte. Die Linien ihrer Lippen zerliefen zu einem verwaschenen Band rosa Lippenstiftes. Die Makellosigkeit ihres Profils relativierte sich in einem Fleck, der ihr Gesicht war. In manchen Nächten haben scheinbar alle Gesichter schiefe Münder...



Eine geile Fahrt

Wie jeden Freitag abend fuhr ich mit John und Jimmy nach einer Portion Scrabble im Com'in in Ebisu mit der langsamen Bahn nach Hause. Gegen elf füllen sich die Bahnsteige wieder. Arbeiter, Workoholics, Betrunkene und Nüchterne - die Stadtnomaden lassen sich zu ihren Zelten in den Vororten transportieren. Abends ist die Stimmung im Zug wesentlich entspannter als morgens. Zwei Drittel der Fahrgäste schlafen einen erschöpften Schlaf und nehmen nicht mehr übel, wenn sich andere unterhalten. Wieder andere lesen oder lauschen den Gesprächen ihrer Nachbarn.

John macht mich auf das Pärchen in der Ecke aufmerksam. Er will gesehen haben, daß - nein, unmöglich! Die beiden Kerls, wie sie so scheinschlafend aneinander lehnen... John bittet mich ihn fest zu drücken, um ihm ganz unauffällig über die Schulter blicken zu können. Ich sehe nichts, Jimmy hält uns für verrückt und unsere ungeschickte Spionageumarmung endet in lautem Gelächter. Der ältere, grauhaarige Japaner neben uns hat unser Schauspiel aufmerksam verfolgt und wirft uns diese undefinierbaren Blicke zu. Zielstrebig, durchdringend über die Schulter des Mannes hinweg, der, den Rücken uns zugewandt, zwischen uns steht. Wir sehen einander an wie durch Glasscheiben. Das Rumpeln des fahrenden Zuges schluckt die Geräusche um uns. Nur dieser bohrende Blick unseres grauhaarigen Nachbarns. Ich merke, daß ich John noch immer umarmt halte. Während unsere Augen das Gesicht des Grauhaarigen suchen, tauschen unsere Münder Spekulationen aus: "Glaubst du, daß er... ?!"

Als er schließlich den Zug verließ,nachdem er sich von dem unbekannten Rücken verbschiedet hatte, meinte John gesehen zu haben, daß er den Reißverschluß seiner Hose hochzog...



Masken

Ich gebe zu, daß King Krimson im Kopfhörer eine etwas anspruchsvolle Unterhaltung im Zug ist: Die wechselnde Lautstärke der Underground-tunes aus den 60er Jahren fordert ständige Konzentration und stets einen Finger am Lautstärkenregler, um nicht von verspielten Flötentönen mit einem jähen, ohrenbetäubenden Schlagzeugeinsatz aus dem sanften Nichts in eine bedrohlich psychodelische Sphäre gerissen zu werden.

Ich war eingenickt. Mein Finger war vom Kragen gerutscht, an dem ich die Fernbedienung meines Walkmans befestigt hatte, und mit einem lauten Kabuuuummmm!!!!! fuhr ich aus meinem säuselnden Halbschlaf auf. Ich mußte mächtig zusammengezuckt sein - unter meinem Schal fummelte ich eine Weile im Blinden, bevor ich den richtigen Knopf fand.

Eben hatte der Zug angehalten, die Reifengeräusche waren verstummt und die Fahrgäste, die den Zug betraten, hatten mein Erlebnis wahrscheinlich in voller Lautstärke mitgehört. Dies war, vermute ich, eine der wirkungsvollsten Möglichkeiten, um auf mich aufmerksam zu machen.

Der Zug war nicht sehr voll. Obwohl alle Sitzplätze besetzt waren, ließ es sich mit angemessener persönlicher Distanz ungehindert stehen. Der Neuankömmling im gepflegten braunen Anzug hatte mein dargebotenes Schauspiel mitverfolgt. Er war etwa Mitte 30, weder besonders häßlich noch hübsch, ein Bänker, mutmaßte ich, und jetzt sah er mich an. An seinem Blick konnte ich erkennen, daß er schüchtern war. Ich betrachtete mich im spiegelden Fenster des Abendzuges und stellte fest, daß ich in meinem neuen Kaschmir souverän aussah, wie ich so locker in den Haltebügeln hing. Ich versuchte lieber nicht zu lächeln, trainierte statt dessen einen entspannten, gelassenen Gesichtsausdruck. Inzwischen hatte sich sein Blick von meinem Gesicht gelöst und war zu meinen Waden hinabgewandert - ?!? - Ich fand es sehr außergewöhnlich und durchaus schmeichelhaft, daß sich jemand ausnahmsweise für den unattraktivsten Teil meines Körpers begeistern konnte.

In diesem Augenblick blickte er wieder empor, mir direkt in die Augen. Ich glaubte, hinter der Maske etwas trauriges, Warmes erspähen zu können, neben einem Ausdruck, den ich beim besten Willen nicht zu deuten wußte. Er fuhr mit der Zunge über seine Zähne, seine Lippen. Ich widmete mich vorsichtshalber wieder meinem eigenen Spiegelbild.

Er ließ nicht locker. Längst schon waren wir in eines dieser wortlosen Gespräche verfallen, die in der Bauchgegend ihren Ursprung haben müssen. Zaghaft. Dennoch spürbar. Wir blickten einander im Spiegel des Fensters an. Fragend. Kulturelle Interferenzen.

Ich beschloß, King Krimson wieder lauter zu stellen. Uchi de. Ich wollte in meiner Sphäre bleiben.

Nishi-Ogikubo. Der Mann im braunen Anzug verschwand von der Fensterscheibe in eine andere Welt.



Touches...

Morgendliche Stoßzeit. Der Wagen ist auf Körperkontakt vollgestopft. Der junge Kerl mit seiner Freundin dreht mir im Gedränge den Rücken zu und lehnt sich an mich an. Back to Back - Arsch an Arsch. Wohin ich auch versuchte zu entwischen, er folgt mir. Stets seine Freundin im Arm rieb der "Follower" seinen Hintern an meinem. Beide schienen Spaß daran zu haben.

Als sie ausstiegen, lachte er mich an.


...and Wishes

Eben aus Kyoto zurückgekommen, steige ich mit meinem Rucksack in einen mäßig gefüllten Abendzug. Sitzplätze sind keine mehr frei. Ich lehne mich mit meinem Gepäck an die Wand des letzten Wagens. Nach ein paar Stationen steigt ein japanisches Mädchen ein. Sie ist hübsch, wirkt mit ihren Zöpfen recht natürlich. Für einige Stationen stehen wir nebeneinander.

Dann betreten zwei junge Japaner das Abteil. Sie haben getrunken, das ist unschwer zu erkennen, und stecken voll unausgegorener, pubertärer Energie. Einer klemmt sich zwischen Türe und Mädchen, der andere fädelt sich zwischen Mädchen und mich. Er dreht mir den Rücken zu und stützt sich mit seinem linken Arm auf den Haltegriff an der Wand - knapp, ganz knapp an der Schulter des Mädchens. Sie wird eingekreist von den beiden, hat kaum eine Ausweichmöglichkeit. Der Junge zwischen uns rückt näher an sie heran, zentimeterweise schiebt er seine Hand am Haltegriff in Richtung ihrer Schulter, bis sie sein Daumen wie das ausgestreckte Tentakel eines Tintenfischs ganz sachte berührt.

Sie fühlt sich mehr als nur unwohl, umzingelt von den besitzergreifenden Blicken und widerlichen Berührungen eines personifizierten Oktopus. Unter dem Arm des Tintenfisches steht mein Rucksack. Mit einer deutlichen Geste schiebe ich ihn zur Seite und gebe ihr die Möglichkeit wegzuschlüpfen.

Sie nimmt sie nicht an. Bleibt regungslos steif, bis die beiden aussteigen und wirft ihnen ein zorniges "Bah!" hinterher.



Ein vergoldeter Geleehering

Es war Grippezeit in Tokyo. Ich hatte mir noch nie so recht vorstellen können, wie sich die Tokyoten in dieser Dichte vor Epidemien schützen wollten. Drei verschiedene Erreger, so hatte man in den Medien angekündigt, schwebten in der dicken Luft Tokyos und attackierten Salarymen und deren Big Bosse gleichermaßen und unabhängig von ihrem Rang und Namen, mit Vorliebe zu den täglichen Stoßzeiten in überfüllten Zügen. Keiner weiß mehr recht, wie er sich kleiden soll: Draußen gegen Null Grad, im Zug meist überheizt, von den Heizkörpern unter den Sitzbänken und den eingepferchten menschlichen Mitkörpern.

Das ist die Zeit, in der es in den Zügen nach einer Mischung aus ätherischen Hustenbonbons und Schweiß riecht. Neben meiner akustischen Isolation betrieb ich seit geraumer Zeit eine olfaktorische Abschirmungskampagne mittels hochkonzentriertem Minzöl, das in Deutschland unter dem Titel "Japanisches Heilflanzenöl" verkauft wird. Kein einziger Japaner, dem ich es unter die Nase hielt, hatte jemals davon gehört.

Doppelt distanziert, hatte ich mich in meine eigene Welt eingepackt: Unter meinem kühlen Schleier aus Minzöl holte ich mir eine Portion täglicher Nestwärme über Bob Dylan Songs aus dem Walkman und rührte sie mit den Sonnenstrahlen über Tokyos Dächern zu einem goldigen Anstrich, den ich "Die Freiheit der Stadtnomaden" nannte. Meine Mitfahrer machte ich zu Teilen der Kulisse; ich tauchte sie in die dünne, warme Flüssigkeit meiner imaginären Goldfarbe, bis nur noch Nuancen von Rottönen fettiger Lippenstifte an der Oberfläche trieben.

In diese Gedankenmalerei schwappte ein plötzlicher Schwall ungehobelter Rücksichtslosigkeit an der nächsten Station. Obwohl das Abteil bereits dicht bepackt war, sprangen weitere Personen ins Gedränge. Und noch ein paar mehr reizten die Elastizität menschlicher Körper voll aus bevor sich die Türen schlossen. Ich war ein Stück weiter gestoßen worden und war jetzt in erster Reihe eingekemmt, meinen Kopf viel zu nahe an einem fleischigen Arm, der jede weitere Bewegung blockierte.

Die Accessoires dieses Armes waren bemerkenswert: Die Gold- und Silberfarbe dicker, unansehnlicher Ringe und überladener Armbänder waren kein Vergleich zu meiner kopfgemischten, goldschimmernden Farbe, die ich im Gedränge verschüttet hatte. Seine Schmuckstücke blendeten, waren kalt, Abgüsse der Pachinkoarchitektur in handlicher Größe, bequeme Dekorationen einer schleimigen Sülze von riechendem, männlichen Fleisch am anderen Ende des Armes. Sein Körpergeruch war von der schlimmsten Sorte: Schaler ausgeschwitzter Sake, dazu Rauch und eine Spur Fisch. Es ist kein Geruch, den man in der westlichen Welt findet. Kein Vergleich mit der aggressiven Aufdringlichkeit verdauten Knoblauchs oder der fettigen Penetranz des Odeurs purer Carnivorer. Es war mehr der Dunst eines seichten, kalten, bläulich schimmernden Gelees, der seinen mumienartigen Körper zu umhüllen schien und mich zutiefst anekelte.

Der Geleehering stand zu dicht hinter mir. Er hätte das ändern können. Sein verchromter Arm, der einer lächerlichen, fleischlichen Verlängerung des Gepäcknetzes gleichkam, war zu kurz, um großzügig um mich herumzugreifen - er hätte nur einen der Haltegriffe in die Hand nehmen müssen. Statt dessen preßte er seine Hüfte an meinen Hintern. Mir war es unangenehm, an seiner Geleesphäre entlangzurutschen und ich war ausnahmsweise sehr dankbar, meinen dicken Anorak zu tragen. So schien es mir, weniger den Körper der Fischmumie, als ihren aufdringlichen Willen zu spüren.

Er stieg vor mir aus bevor ich kollabierte. Ich konnte wieder atmen.

abschließender Teil folgt

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