Trainstories
text & foto dg
Seit ich in Tokyo einer halbwegs geregelten Arbeit nachgehe, sehe ich mich auch mit der täglichen Zugfahrt von Koganei stadteinwärts und abends retour konfrontiert. Es gibt kaum Möglichkeiten, einer Stoßzeit aus dem Weg zu gehen - ich unterliege demselben Problem wie die Mehrheit aller Tokyoter: der Arbeitsplatz liegt eine Stunde vom Hause in der falschen Richtung. Macht also zwei lebenswerte Stunden aus, die ich meist mit äußerst eingeschränktem Aktionsradius im Zug ver-stehe; zwei Stunden, die bei aller Beengtheit nicht ganz unkreativ vergehen...

In Musashi-Koganei ist zu meiner Abfahrtszeit morgens die Hölle los. Nicht daß der Bahnhof als solches überlaufen wäre - der Bahnsteig ist durchaus erträglich dicht. Jedem Fahrgast bleiben durchschnittlich mehrere Quadratmeter Bewegungsfreiheit zur Verfügung. Hält allerdings der Zug, ist er bereits vollgepackt - so, daß man als Europäer lieber auf den nächsten warten würde, ahnte man nicht, daß dieser ähnlich beladen sein würde. Dummerweise habe ich um diese Zeit noch nie jemanden in Musashi-Koganei aus einem Zug stadteinwärts aussteigen sehen...

Den Gedanken an einen Sitzplatz habe ich bereits bei meiner ersten Fahrt im Keim erstickt. Ich freute mich über jede Chance, einen guten Stehplatz zu erwischen. Die besten befinden sich unmittelbar an den (besetzten) Sitzbänken entlang der Fenster, in einiger Entfernung von den Ausgängen. Hier genießt man zum einen freie Atmungsmöglichkeiten, zum andern den Vorzug von Halteschlaufen, die einen die persönliche Gleichgewichtssituation eigenständig kontrollieren lassen.

Andernfalls ist man mehr oder weniger der Disziplin seiner Mitfahrer ausgeliefert.


Mikrokosmos der Geräusche

Während man sich optischer Beleidigungen ganz einfach erwehren kann, wenn man die Augen schließt, reichen bei akustischer Reizüberflutung die körpereigenen Abwehrmechanismen nicht mehr aus. Da benötigen wir Menschen technische Krücken, Schaumstoff im einfachsten Fall. Das zeitgenössische Wundermittel aber heißt Walkman und zeichnet sich dadurch aus, daß man sich mittels seiner Lieblingstapes ganz einfach in Traumwelten katapultieren kann, die einem die Bilder der Realität versüßen. Während der täglichen Zugfahrten hinterlegte ich gerne meine optischen Eindrücke mit Musik; die Augen schloß ich selten bewußt, nur, wenn ich durch das gleichmäßige Rumpeln des Zuges schläfrig geworden war. Ich liebte es, aus dem Fenster zu sehen und aus der Realität durch Töne allerlei Gedanken zu schöpfen um sie in einen fast einstündigen Film hineinzuimprovisieren.

Heute hatte ich aber meinen Walkman zu Hause vergessen. Das war ein Fehler, denn die Geräusche der erkälteten Zeit breiteten sich mit unerbittlicher Lautstärke im Bahnabteil aus. Ich hatte – oh Wunder! - einen Sitzplatz in dem Morgenzug um fünf nach halb neun und wurde Zeuge einer Geräuschkulisse, die ich sonst einfach ausschaltete. Husten, Schniefen und - da stand dieser Typ vor mir, "the chewer" nannte ich ihn, der geräuschvoll auf seinem Kaugummi herumbiß, schlurzte und seinen Mund dabei nicht schließen wollte. Ich fürchtete, daß er mir ins Gesicht spuckte. Diesen Anblick konnte ich nicht ertragen und schloß meine Augen. Die Töne, die er dabei von sich gab, konnte ich nicht verdrängen. Unfähig, friedlich entschlummern zu können, öffnete ich meine Augen wieder und warf ihm wütende Blicke zu. Mein Vorwurf rutschte glatt an seiner ausdruckslosen Mine ab. Noch nicht einmal fragend sah er mich an... Ob ich wollte oder nicht, mußte ich diese ungeheuere Portion Ignoranz verdauen versuchen, gleich ob sie aus kulturellem oder persönlichen Unverständnis herrührte. Er widerte mich an.

Sabbersonate aus einem dumpfen Gesicht stieren Blickes. Ich fühlte mich dafür zu lebendig!

Inzwischen hatte sich der Japaner neben mir zu Wort gemeldet. "The reader", ein etwas ungepflegter Typ mit nackenlangen, graumelierten Haaren und dem fashionablen Dreitagesbart las fashionable englische Klatschzeitschriften ungewohnt hohen sprachlichen Niveaus. Er schien tief in seinen Text versunken zu sein; vielleicht auch in die Musik, die er gerade hörte. Wahrscheinlicher schien mir, daß er meine Aufmerksamkeit erregen wollte - "höre, gaijin, Du! Ich kann auch englisch..." und in halbwegs verstümmeltem, aber erkennbaren englisch begann er mir eine Lesung zu halten. Ein Säuseln mehr...

Walkmangeräusche. Signale des anfahrenden Zuges. Der Herr links neben mir schläft den Schlaf der Gerechten. Ich beneide ihn.


In liebevollem Einvernehmen

Heute traf ich auf einen äußerst freundlichen Japaner...

Ich war aufgewühlt. Meine Mutter hatte mir einen besorgniserregenden Fax über ihren gesundheitlichen Zustand geschickt. Ich stand auf einem soliden Podest vor einem Abgrund, der mir - Nichts - verhieß und Sandy Denny im Walkman, die ich über die Kulisse Tokyos gestülpt hatte, half mir dabei. Es war ein Donnerstag abend - der einzige Abend der Woche, an dem mein Freund John auswärts übernachtete. Normalerweise genoß ich diesen Spielraum ganz für mich alleine zu sein - heute hätte ich mir jemanden zum Reden gewünscht.

Der junge Kerl, bebrillt und liebenswert, einer, offensichtlich auf dem Weg zum Intellektuellen, setzte sich neben mich und las in seinem japanischen Taschenbuch. Dieses war - wie in den meisten Fällen - in Papier eingewickelt und gab nichts von seinem Inhalt preis. Ich blickte ihm über die Schulter und testete mich, wie schnell ich mitlesen konnte, und ob ich einige inhaltliche Fetzen auffangen konnte.

Obwohl ich gelegentlich einnickte, wendete er sich mir freundlich zu und hielt mir sein Buch zum Mitlesen hin.

Ich drehte meinen Walkman etwas lauter und ließ ihn dafür mithören.

Als ich ausstieg, lächelten wir einander freundlich zu.


Der fremde Freund

Heute, Freitag mittag, sprang ich geschwind in Shinjuku in den Zug nach Hause. Der Zug war halbwegs voll. Ich schlüpfte auf den freien Sitzplatz, bevor der Herr vor mir es bemerkte. Ich fühlte mich entspannt und großzügig - ob des sonnigen Wetters, der Tatsache, gerade meine letzte monatliche Ration Geld aus dem Automaten geholt zu haben und mir ein teueres Eis geleistet zu haben. Mit einem verschmitzten Lächeln konnte ich alle großen Chancen des Lebens, die sich mir heute boten, freimütig an mir vorüberziehen lassen. In meinem musikalischen Mikrokosmos liefen Sehnsuchtsklänge - crunchige Großstadtpoesie, schwermetallhaltig, horny - "in my solitude... you haunt me with reveries of days gone by... - I'm praying, Dear Lord above, send back my love..."

Zwischen den Hüften der Leute, die vor mir standen, erspähte ich das Gesicht eines schlafenden Gaijin. Er erinnerte mich an einen Bekannten; markantes Gesicht, gezähmte braune Locken, nicht gerade eine Schönheit - trotzdem gab es da etwas, weshalb ich ihn immer wieder ansehen mußte. Ich starrte nicht, blickte vielmehr hin und her bis ich einen Augenblick lang in zwei interessierte braune Augen sah, die mitten in mein Gesicht zielten. Ich reagierte hervorragend, warf ihm aus meiner akustischen Schutzhülle heraus ein umwerfend warmes Lächeln zu. Er blickte verlegen zur Seite. Ich war etwas erstaunt, denn ich hatte heute beschlossen mich nicht sonderlich attraktiv zu finden. Vielleicht war nur ein Stück Freiheit in meinem Gesicht, ein Loslassen und eine Spur von "Fuck you... - fuck you?"

Er schloß wieder die Augen und trommelte mit seinen Fingern den Rhythmus der Musik aus meinem Walkman. "...and the dogs of lust... creep out of my mind into my life..." Längst hatten wir eine wortlose Unterhaltung begonnen. Wir sahen einander an, stumm, ich lachte ihn an.

Nach ein paar Stationen waren sowohl meine Neugierde, als auch mein Vertrauen groß genug, um den Walkman beiseite zu legen. Inzwischen war die Hüfte zu meiner Rechten ausgestiegen und die Sicht frei. Wir trieben unser Spielchen eine Weile weiter, eine Spur nackter. Kurze Zeit später wurde der Sitz neben mir frei. Ich rollte mit den Augen. Er konnte jetzt nicht mehr aus. Irgendetwas mußte er sich einfallen lassen.

Kurz vor Mitaka stand er auf und stellte sich an die Türe neben mir - ein geschickter Schachzug, so konnte er, im Falle einer Niederlage, ganz schnell aussteigen - "guess we're going the same direction - where are you getting off?" - "Musashi-Koganei, and you?" - "Ome." Ich bedauerte im Stillen, als erste aussteigen zu müssen und hoffte ganz gegen meine Gewohnheit, daß diese Zugfahrt ausnahmsweise länger dauern möge.

Das Vorspiel war beendet. Jetzt konnten wir einander die üblichen neugierigen, belanglosen Fragen stellen. Er machte das, was alle hier machen, English-language-prostitute, und war nicht so sehr glücklich dabei; ich widersetzte mich dem, was alle hier machen und war im großen und ganzen glücklich dabei. Er kam wohl aus Kanada - ich kam aus Deutschland. He fell in love with Kyoto - I rised in love in Kyoto. Er war ein verkappter Künstler - ich auch. Er wollte in British Columbia Kunst machen - Ich kannte einen Künstler auf Hornby Island... und schien plötzlich zu wissen, weshalb wir auf einer wortlosen Welle Energie austauschen konnten. Ich war nahe dran, ihn zu fragen, ob er mit mir aussteigen wolle... Ich spürte ein ähnliches Ziehen, wie damals, als ich Robin traf und ich wußte, daß es in kurzer Zeit fürchterlich handgreiflich enden mußte...

Ich ließ ihn los, ließ ihn weiterfahren. Vielleicht sehen wir uns wieder einmal in der Chuo-Line. Vielleicht nicht.

Teil 2
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